Interview: Russischer Online-Markt, ein Riese mit Riesen-Potential? Teil 1
Russland verfügt über den grössten Online-Markt in Europa. Einige Vorreiter setzen bereits Marketingstrategien ein, die speziell auf den russischen Markt abzielen. Auf der einen Seite werden Grossereignisse mit positiver Medienwirkung in Russland abgehalten, auf der anderen Seite steht das derzeit gespannte Verhältnis mit der EU und den USA. Ist jetzt die richtige Zeit, um ein Engagement auf dem russischen Online-Markt vorzubereiten und sich so einen zukunftsträchtigen Wettbewerbsvorteil zu sichern? Oder stünde man aufgrund der deutlichen Unterschiede zwischen Europa und Russland vor einer Mammuthaufgabe, mit hohen Initialkosten und unabsehbarem Risiko?
Wir freuen uns, dass wir mit Vitaliy Malykin zu diesem Thema einen erfahrenen SEOler für den russischen Markt befragen können. In diesem zweiteiligen Interview gibt er uns Einblicke in die Entwicklung des russischen Online-Marktes sowie wertvolle Hinweise für ein Online-Engagement.
Guten Tag Herr Malykin. Vielen Dank, dass Sie sich für dieses Interview zur Verfügung stellen. Durch Ihre langjährige Tätigkeit im SEO-Bereich mit dem Schwerpunkt Russland verfügen Sie über eine reichhaltigen Erfahrungsschatz, wenn es um den russischen Internetmarkt geht. Würden Sie sich und ihre Arbeit unseren Lesern selbst bitte noch etwas näher vorstellen?
Hallo! Ich heiße Vitaliy Malykin, Baujahr 1982, und ich komme ursprünglich aus der Ukraine. Geboren bin ich in der Industriestadt Kriwoi Rog im Südosten des Landes. Meine Muttersprache ist Russisch, ich spreche jedoch auch ukrainisch. Seit dem Jahre 2000 lebe und arbeite ich in Köln und bin mittlerweile sehr mit dieser Stadt verbunden.
Im Webentwicklung- und SEO-Geschäft bin ich seit Ende 2005. Parallel zu meiner Arbeit habe ich studiert und 2012 mein Diplom in BWL an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt-Augustin gemacht. Davor habe ich zwei Jahre Informatik in Kiew studiert. Bis ich 20 wurde stand in meinem Leben Schach an erster Stelle. Ich bin im Rang eines Internationalen Meisters und spiele immer noch für zwei Schachvereine in Köln und Brüssel.
Wie sind sie dazu gekommen, Ihren Arbeitsschwerpunkt auf Russland zu setzen?
Das wollte ich nie. 2008 hatte ich bereits einen kleinen Kundenstamm und einer meiner Auftraggeber hatte sich Gedanken bezüglich des russischen Marktes gemacht. Er war mit dem, was ich für ihn auf dem deutschen Markt umgesetzt habe, sehr zufrieden und hat mich damals regelrecht dazu gezwungen, für ihn SEO-Massnahmen auch auf dem russischen Markt zu betreiben.
Betreuen Sie vor allem Kunden in Russland selbst oder gibt es auch viele deutschsprachige Kunden, die auf dem russischen Markt suchmaschinenoptimiert präsent sein wollen?
Nein, wir haben keinen einzigen russischen Kunden aus Russland. Es sind ausschliesslich deutsche Kunden, für die wir Suchmaschinenoptimierung und weitere Online Marketing Massnahmen in Russland umsetzen.
Können Sie uns exemplarisch einige Beweggründe Ihrer Kunden nennen, sich auf dem russischen Markt zu engagieren – ist das Engagement eher eine Frage der Branche, der Firmengrösse oder einer bestimmten Verbundenheit mit Russland?
Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Meistens ist das doch die Branche, weil bestimmte Produktgruppen und Dienstleistungen sich eher als die anderen verkaufen lassen. Bis 2010/2011 konnte ich folgendes Bild beobachten: in Russland und der Ukraine liefen fast ausschliesslich nur teure bis luxuriöse Produkte und Dienstleistungen aus Deutschland gut. Unsere Kunden damals: eine exklusive Zahnklinik, die ein grosses Interesse an Kunden aus Russland hatte, ein Airbroker, der private Jets und Helikopter vermietet hat und einer der renommiertesten Anwälte und Strafverteidiger Deutschlands und Europas.
Vor einigen Jahren ging der andauernde Kampf um ausländische Patienten unter deutschen Kliniken und privaten Vermittlern los. Deutsche Medizin ist weltweit ein Brand, genauso wie deutscher Maschinenbau oder Automobilindustrie. Über diese Entwicklung sind wir natürlich sehr erfreut.
In den letzten Jahren häuften sich Meldungen wie diese: «Täglich kaufen 30.000 Russen bei eBay ein» oder «Der ukrainische Online-Handel erreicht die Marke von 2 Mrd. US-Dollar». Hinzu kommt die Tatsache, dass nun immer mehr Leute in Russland, auch in den Regionen und an der Peripherie, Internetanschlüsse bekommen. Das alles führt dazu, dass immer häufiger auch Kleidung, Schuhe oder Haushaltsgeräte über den Online-Weg aus dem Ausland gekauft wird.
Auf der einen Seite gibt es grosse Unterschiede zwischen Westeuropa und Russland, was den russischen Markt schwer erschliessen lässt. Auf der anderen Seite stellt Russland einen der grössten Internetmärkte mit ca. 70 Mio. Nutzern dar, was gewissermassen ein natürliches Ziel für Online-Marketer sein muss. Haben Grossereignisse wie die Olympischen Spiele in Sotschi dazu geführt, dass mehr ausländische Marketer dieses Potential erkennen und abschöpfen möchten oder überwiegt die Vorsicht, sich lieber nicht mit einem politisch instabilen Land verzetteln zu wollen?
Extra zu dem Thema haben wir vor einem Jahr einen Beitrag gebracht. Natürlich hat sich das Land bei den Olympischen Spielen in Sotschi von seiner besten Seite gezeigt. 2018 findet die Fussball-WM in Russland statt. Aber ganz ehrlich – das, was in den letzten Jahren in Russland passiert, führt eher dazu, dass Russlands Image in der westlichen Welt immer schlechter wird. Hoffentlich bewegt sich etwas in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit, Menschenrechte oder Korruptionsbekämpfung, was dazu führt, dass Russland wieder auf Augenhöhe mit westlichen Ländern erscheint.
Neben den „Grossereignissen“ wie den Olympischen Spielen, die eine hohe mediale Reichweite erzeugten, kommt man leider nicht umher, die russische Beteiligung am Krieg in der Ukraine und seinen schweren Folgen zu erwähnen. Russland ist durch sein Auftreten international in die Isolation geraten. Ich hoffe sehr, dass Russlands politische Elite umdenkt und mehr Mut zum Dialog findet.
Spüren Sie bei Ihrer Arbeit die Auswirkungen der zur Zeit angespannten politischen Situation zwischen Russland und der EU?
Ja, auf jeden Fall. An der Stelle möchte ich auf konkrete Beispiele bzw. Kundenaussagen verzichten, aber ich hoffe sehr, dass sich die Situation ändert.
Einen Beitrag zum Thema Presse- und Meinungsfreiheit in Russland, das Vitaliy Malykin im Interview ansprach, finden Sie hier.
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