Beim Werben kommt es auf den Blickwinkel an – aber welcher ist gerade der wichtigste?

Der Blickwinkel verändert nicht nur die Sicht auf die Dinge, sondern auch die Dinge selbst. Denn der Mensch ist ganz gross darin, mit seinem Willen Realitäten zu erschaffen. Diese besondere Fähigkeit lässt sich natürlich auch marketingtechnisch verwerten. Im Content Marketing geschieht das vor allem über Texte.

Wer etwas verkaufen will, braucht Texte, die zum Blickwinkel der Zielgruppe passen. Es geht darum, die gewünschte Sichtweise zu ermöglichen, auszubauen und zu verstärken, damit aus Interesse Bedarf entsteht, der bestenfalls zu Besitzwunsch und Kaufentschluss führt. Das klingt toll, ist aber reine Theorie. Die praktische Umsetzung liegt beim Texter – und darum muss der viel mehr können als nur schöne Worte zu korrekten Sätzen zusammenfügen.

Von der vielschichtigen Beziehung des Kunden zum Angebot

Hinter jeder Werbung stecken finanzielle Interessen. Der Verbraucher weiss, dass ihm das entsprechende Produkt oder die Leistung nicht aus Altruismus angeboten wird und dass er unterm Strich nichts geschenkt bekommt, sondern immer etwas bezahlen muss. Trotzdem funktioniert Werbung, und zwar vor allem über den gefühlten Mehrwert. Wenn ich davon überzeugt bin, dass mir das Erworbene mehr bringt, als ich dafür hergeben musste, bezahle ich automatisch einen günstigen Preis und habe beim Handel Gewinn gemacht.

Die Finanzinteressen des Verkäufers prägen dessen Blickwinkel, sind aber für den Kunden Nebensache. Alle Anbieter wollen verkaufen, aber kein Käufer will einfach nur kaufen. Dafür ist er sich zu wertvoll, und dafür ist ihm sein Geld zu schade. Er will noch etwas anderes, noch mehr, etwas Besonderes. Das kann ganz viel auf einmal und muss weder konkret noch logisch sein. Viele unterschiedliche Ausgangssituationen, Blickwinkel und Motive, sowohl innere als auch äussere, können auf dieselbe Handlung hinauslaufen.

Ich kann mir auf dem Heimweg ein Eis kaufen, weil mir heiss ist, weil ich Lust auf etwas Süsses habe, weil ich ein bisschen hungrig bin oder mich unterzuckert fühle. Ich kann mich damit aber auch belohnen, mir etwas gönnen, das ich verdient habe, oder mich für vorangegangene Strapazen entschädigen. Vielleicht kaufe ich das Eis, weil ich frisch verliebt bin und mich fühle wie ein junges Mädchen. Oder weil ich von Diäten die Nase voll habe und ab heute zu meiner Leidenschaft für Schokolade stehen werde. Oder weil mir der Eisstand, der Eisverkäufer oder die Leute in der Eisdiele gefallen. Oder weil mir jemand erzählt hat, hier gäbe es das beste Preiselbeereis der Stadt.

Fast immer verkaufsfördernd: der emotionale Blickwinkel

Als Eishersteller oder -verkäufer profitiere ich natürlich davon, dass Eisessen mit vielen positiven Gefühlen verknüpft ist. Es ist nicht schwer, Eis von seiner Schokoladenseite zu zeigen, denn es hat keine anderen: Niemand kauft dieses Genussprodukt aus rein praktischen Erwägungen. Beim Werben kann ich den emotionalen Blickwinkel als gegeben voraussetzen und daher ganz direkt vorgehen.

Ich brauche grosse Bilder, wenige, aber starke Worte und vielleicht noch einen eingängigen Song, um die bereits vorhandenen individuellen Vorstellungen, Assoziationen und Wünsche meiner Zielgruppe zu unterfüttern, zu verstärken und mit dem Namen meines Produkts zu verbinden. Versuche ich stattdessen, meinen Kunden über Erklärvideos oder Ratgebertexte den Nutzen des Eisessens bei sinkendem Blutzuckerspiegel zu erläutern, mache ich mich allenfalls verdächtig: Wer sollte denn deswegen Eis essen wollen? Und warum dann ausgerechnet diese bestimmte Sorte? Hinter einer unklaren Botschaft steckt meist eine unklare und daher fragwürdige Intention.

Also zeige ich Menschen, die mein Eis essen – am Strand vor einem grossartigen Sonnenuntergang, in der Hängematte unter dem blühenden Apfelbaum, beim Spielen am Familientisch, auf dem Laufsteg im Glitzerkleid, im Cabrio beim entspannten Cruisen auf der Uferpromenade, auf dem Dach eines Hochhauses, mit baumelnden Beinen, darunter bis zum Horizont die funkelnden Lichter der Grossstadt … und dazu sage oder schreibe ich etwas Schönes: Wie wir. Für immer. Immer wieder. Für mich. Für uns. Lass es schmelzen. Hier ist Glück. Für diese Sekunden. Ein Traum von wahrem Leben. Das versteht nicht nur jeder, sondern das kann auch jeder beim Eisessen erleben.

Worte, die zur Verstärkung und Verknüpfung von Bildern und Gefühlen eingesetzt werden, wirken oft kitschig. Aber sie wirken – nicht nur, weil fast jeder zumindest einen heimlichen Sinn für Kitsch hat, sondern auch, weil wir uns besonders leicht und willig über die Emotionsschiene einfangen lassen. Wir halten uns eben gern dort auf, wo es warm und gemütlich ist. Wir lieben es, uns angesprochen, umworben, geschmeichelt, gelockt, erwählt, gerufen, gefragt und gebraucht zu fühlen. Das Mass an Aufmerksamkeit, das wir bekommen, macht einen Grossteil unseres Selbstwertgefühls, Weltbezugs und damit Lebenssinns aus.


Der emotionale Blickwinkel ist fast immer verkaufsfördernd. (Bild: rtFamily – shutterstock.com)

Exkurs: Von der schwierigen Leichtigkeit, beim Werben ehrlich zu bleiben

Werbung küsst die Sehnsucht wach, weckt die Erinnerung und appelliert auf vielfältige Art an die Gefühle. Das wird ihr oft auch zum Vorwurf gemacht, denn über die Gefühlsebene ist der Mensch leicht zu manipulieren. Sein Blickwinkel kann verzerrt werden, etwa durch gezieltes Schönen, Weglassen oder Dazuerfinden von Informationen. Natürlich ist es für Werbetreibende völlig legitim, ihr Angebot ins beste Licht zu rücken und seine Stärken so auszuleuchten, dass eventuelle Schwächen im Schatten bleiben – tatsächlich sind die Sonnenseiten ja auch für potenzielle Käufer das Interessanteste am Produkt und das stärkste Argument für einen Erwerb.

Werbung darf uns jederzeit etwas vormachen, nur anlügen soll sie uns nicht – was in der Praxis bedeutet, dass wir uns nicht im Nachhinein davon angelogen fühlen wollen. Habe ich mich dazu verführen lassen, etwas zu kaufen, das ich nicht unbedingt brauche, gebe ich dafür nicht der Werbung die Schuld. Habe ich aber ein Produkt erworben, das mir angeblich ein Leben lang dienen wird, dann aber beim ersten Gebrauch kaputtgeht, fühle ich mich angelogen. Mein vermeintlicher Mehrwert, für den ich bezahlt habe, hat sich in Luft aufgelöst bzw. ins Gegenteil verkehrt: Wo mir ein Nutzen versprochen wurde, habe ich einen Schaden davongetragen.

Man könnte sagen, dass Werbung immer lügt, da wir im Grunde nur einen sehr geringen Teil der überall angebotenen Güter und Dienste wirklich brauchen und es kaum etwas gibt, das tatsächlich einzigartig oder frei von Schattenseiten ist. Unter demselben philosophischen Blickwinkel betrachtet könnte man aber auch sagen, dass Werbung gar nicht lügen kann, da es immer auch von den Erwartungen und dem Verhalten des Käufers abhängt, ob und wie sich ein Werbeversprechen erfüllt. Denn Werbeversprechen sind schliesslich keine Produktinformationen, deren Wahrheitsgehalt sich messen lässt. Wenn im Katalog „aus Buchenholz“ steht und beim Auspacken Spanplatte zum Vorschein kommt, habe ich eindeutig Grund zur Reklamation. Aber woran liegt es, wenn das Buchenschränkchen nicht den versprochenen Landhauszauber in mein Wohnzimmer bringt?

Häufig wird die Verantwortung des Werbenden in einem Atemzug mit der Mündigkeit des Verbrauchers genannt. Beide sind wünschenswert und grundsätzlich vorhanden, aber sehr frei interpretierbar und verschiedenen Schwankungen unterworfen. Auch hat Ehrlichkeit in der Werbung, ob beim Content Marketing oder auf dem Wochenmarkt, wenig mit objektiven Nutzwerten oder Qualitätsstandards zu tun: Wer sein Produkt als gut bewirbt, ist ehrlich, solange die Zielgruppe dauerhaft (also auch noch nach dem Kauf und bei der täglichen Nutzung) seine Meinung teilt.

Der technisch-sachliche Blickwinkel: Perfekt zum Transport von Informationen

Nicht alles lässt sich durch einen blossen Appell an die Gefühle gut verkaufen. Wenn ich beispielsweise ein Unternehmen leite, das Elektrobauteile, Hydraulikschläuche oder Schrauben verkauft, brauchen meine Kunden vor allem sachliche Informationen – also Zahlen, Daten und Fakten. Die muss ich nicht nur am Telefon oder im Laden mitteilen und gegebenenfalls demonstrieren können, sondern auch auf meiner Internetseite oder in meinem Onlineshop in Wort und Bild zur Verfügung stellen.

Natürlich kann ich auch als Anbieter von Schrauben Content Marketing betreiben, das über den rein sachlichen Teil, also die korrekten, aktuellen und vollständigen Produktinformationen, hinausgeht. Das bietet sich schon allein deshalb an, weil die Suchmaschinen es lieben werden, wenn meine Seite neben den notwendigen Grössen-, Mengen- oder Gewichtsangaben, Zahlen, Listen, Abkürzungen und üblichen Produktfotos auch längere Texte enthält. Hier muss ich mir allerdings gut überlegen, welche Art von Texten die Besucher meiner Seite auch lesen oder sogar geniessen würden. Immerhin will ich ja vorrangig Menschen ansprechen, die jetzt Schrauben brauchen und daher rasch Bescheid wissen, bestellen und so schnell wie möglich ans Werk gehen möchten.


Der technisch-sachliche Blickwinkel ist perfekt zum Transport von Informationen. (Bild: Rocketclips, Inc. – shutterstock.com)

Sachlicher Blickwinkel und kreatives Content Marketing schliessen einander nicht aus

Eine einfach umzusetzende Möglichkeit, die auch von vielen Shops genutzt wird, wäre es, die vorhandenen Produktinformationen in kurze Texte zu packen und so zu präsentieren. Wenn man einmal beim, Beispiel des Schraubenhändlers bleibt, könnte dann aus „Schnellbauschraube, Grobgew., 3,9 x 35 mm, 500/1000 Stck.“ ein kleiner Text wie dieser werden:

„Die Schnellbauschraube mit Grobgewinde ist geeignet für Unterkonstruktionen aus Holz (z. B. die Unterlattung von Rigipswänden) sowie die Montage dünner und mitteldicker Metallprofile. Die phosphatierte und damit korrosionsbeständige und verfärbungsfreie Schraube ist 25 Millimeter lang, der Durchmesser des Schraubenschafts beträgt 3,9 Millimeter. Zum Eindrehen benötigen Sie einen Kreuzschlitz-Schraubendreher oder entsprechenden Bit. Bestellen Sie diese beliebte, günstige und unverwüstliche Allzweckschraube entweder in der praktischen 500er-Packung oder ordern Sie gleich 1000 Stück, damit in Ihrer Werkstatt die Schnellbauschrauben nie ausgehen.“

Beauftrage ich jedoch einen Texter damit, mir für 300 verschiedene Schraubenarten je einen solchen Text zu schreiben, kann selbst der fantasievollste und findigste Schreiber nicht vermeiden, dass es zu jeder Menge unnötiger Dopplungen kommt. Ausserdem erfordert eine bestimmte Schraube, die ja aus nur einem Teil besteht und deren Handhabung jedem klar ist, kein langes Drumherumgerede oder –geschreibe. Hier wäre der Kunde mit überschaubaren und bei jedem Produkt einheitlich gestalteten Zahlen- und Einheitenangaben besser bedient – und letztlich geht es ja um den Blickwinkel des Kunden und nicht um den Algorithmus der Suchmaschine.

Es sähe schon ganz anders aus, wenn meine Schraube beispielsweise Teil eines speziellen, nur zu einem bestimmten Motor passenden Überholsatzes wäre – oder wenn mein Shop statt Schrauben komplexe, mehrteilige Gegenstände anbieten würde, etwa Spielzeugautos oder Kameras. Dann könnte der Texter zu jedem einzelnen Auto bzw. jeder Kamera einen Text über deren individuelle Eigenschaften schreiben, vielleicht sogar eine kleine, spannende Geschichte erzählen oder einen ansprechend formulierten und gut strukturierten Erfahrungsbericht beisteuern. Und ganz unten wären dann noch einmal die technischen Daten in einer übersichtlichen Auflistung zusammengefasst – eine perfekte Präsentation.

Zurück zum Schraubenshop: Wie könnte mich ein guter Texter hier unterstützen? Ich will Texte zur Sache, aber weder den Kunden mit Geschwafel langweilen noch die Produktinfos unnötig aufblähen und unübersichtlich machen. Hier tut es gut, wenn der Texter mitdenkt – dazu muss er kein Schraubenexperte sein, sondern nur den Blickwinkel der Zielgruppe einnehmen und sich auch selbst dazuzählen. Dann wird ihm beispielsweise auffallen, dass die Schrauben phosphatiert und darum besonders robust sind. Aber was genau bedeutet das? Hier gibt es doch einen Erklärungsbedarf – und damit eine gute Möglichkeit, der Zielgruppe optional eine Erweiterung von Horizont und Blickwinkel anzubieten.

Ein guter, informativer und schön geschriebener Text zum Thema „Phosphatierung“ kann in 300 Wörtern erklären, welcher Behandlung diese Schrauben unterzogen werden, wie sich dadurch die Metalleigenschaften verändern und wie sich das wiederum auf die Korrosionsbeständigkeit der Schraube auswirkt. Diesen Text könnte ich auf meiner Seite unabhängig von den einzelnen Produktbeschreibungen im Shop anbieten und durch andere Texte zu weiteren relevanten Themen ergänzen.

Andere Schrauben sind vernickelt, haben eine Bohrspitze, versenkbare Köpfe oder werden mit einem besonderen Sicherungssystem geliefert. Wo lassen sie sich besonders gut anwenden, und für welche Materialien sind sie weniger geeignet? Warum sehen nicht alle Kreuzschlitzkerbungen in Schraubenköpfen gleich aus? Was unterscheidet eine Beton- von einer Holzschraube? Welche Gewindearten gibt es? Und wie lässt es sich physikalisch erklären, dass Schrauben und Bits mit einer vielzahnigen oder vielkantigen Form beim Ein- und Ausdrehen mehr Kraft aushalten und sich nicht so leicht „runddrehen“ lassen?


Auch technische Informationen können spannend präsentiert werden. (Bild: wavebreakmedia – shutterstock.com)

Ob die Rechnung aufgeht, zeigt sich beim Content Marketing oft erst später

Der Blickwinkel des Werbenden ist in der Regel nicht Hauptgegenstand einer Werbekampagne. Doch für Werbetreibende, die sich das Kennenlernen, Ansprechen, Umgarnen und Bedienen ihrer Zielgruppe ja auch einiges kosten lassen, ist es überaus wichtig, dass die Werbung auch funktioniert. Das zu überprüfen, zu messen und in konkreten Zahlen auszudrücken ist jedoch nicht immer einfach.

Die Steuerungs- und Kontrollzentrale für alles, was sich in Zahlen ausdrücken lässt, ist in mittleren und grösseren Unternehmen das Controlling. Der Controller kann den Erfolg einer Werbekampagne mit sogenannten Kennzahlen und Kennzahlensystemen berechnen und belegen. Dabei gibt es harte und weiche Kennzahlen.

Wenn ich auf der Webseite meines Schraubenshops zwanzig gute, neue und schöne Texte anbiete und im folgenden Monat 1‘000 neue Bestellungen eingehen statt wie bisher nur 100, ist das eine konkrete Umsatz- und Gewinnsteigerung, die sich durch harte Kennzahlen ausdrücken lässt. Bleibt die Zahl der Bestellungen gleich, während die Besucherzahl der Website jedoch verdreifacht hat, sehe ich zwar eine grundsätzlich positive Veränderung und weiss, dass ich auf dem richtigen Weg bin, doch ich kann noch nicht voraussehen, ob die Kampagne irgendwann mehr Geld bringen wird, als sie gekostet hat.

Der Blickwinkel des Controllers ist auf den ersten Blick sehr unromantisch und unbarmherzig. Doch gerade in den weichen Kennzahlen drücken sich auch wichtige Erfolge aus, die sich nicht oder erst viel später als harte zahlen, beispielsweise Geldsummen, darstellen lassen – zum Beispiel die Aufwertung des Unternehmensimage. Anhand von Kundenrückmeldungen, etwa Kommentaren auf meiner oder anderen Seiten, kann ich feststellen, wie die neuen Themen und Texte ankommen. Wie werden sie bewertet? Haben sie einem Kunden weitergeholfen oder ihn in einer Arbeitspause gut unterhalten?

Es ist sehr wichtig, möglichst viel und konkretes Feedback von der Zielgruppe zu erhalten. Darum lohnt es sich immer, neue Besucher und auch seine Stammkunden dazu zu ermuntern. Und weil der Mensch viel lieber aus innerem Antrieb und innerer Beteiligung handelt als auf reine Aufforderung, motiviert ein Text über das Einsatzfeld von Schnellbauschrauben, der einen persönlichen Bezug zum Leser schafft, viel stärker zu Feedback als „Schnellbauschraube, Grobgew., 3,9 x 35 mm, 500/1000 Stck.“

Im Idealfall drückt sich der Nutzen der neuen Texte in steigenden Verkaufszahlen, einem besseren Kundendialog und einer Aufwertung des Images aus. Meine Rechnung vom erfolgreichen Content Marketing wird langfristig aufgehen, wenn sowohl die Kunden- als auch die Auftragszahlen steigen und Besucher auf meiner Schraubenseite regelmässig Kommentare hinterlassen wie: „Seit ich mir von euch endlich mal alle Gewindearten habe erklären lassen, kaufe ich nur noch die Schrauben, die ich wirklich brauche – gerade habe ich im Shop mein komplettes Sortiment aufgestockt!“

Surprise, surprise! – Der unerwartete Blickwinkel

Stellen Sie sich vor, Sie planen Ihre nächsten Ferien. Sie möchten an den Strand, und zwar am liebsten an einen ganz besonderen. Sich einfach neben tausend andere Touristen in den Sand vor irgendeinem Hotel zu legen und von Zeit zu Zeit umzudrehen, ist Ihnen nicht genug: Sie sind neugierig auf das, was „Ihren“ Strand einzigartig macht, und wollen nach der Rückkehr auch etwas zu erzählen haben.

Mit diesen Vorstellungen im Kopf suchen Sie das Internet nach passenden Stränden ab – und stellen schnell fest, dass hier immer die gleichen Argumente ins Feld geführt werden. Die positiven Attribute, mit denen Strände beworben werden, bedienen einen sehr pragmatischen, konsumorientierten Blickwinkel und sind daher kaum für Überraschungen gut. Der Strand ist nicht weit weg, er ist sauber, er besteht aus Sand oder Kies, Hunde sind erlaubt oder nicht, es gibt seichte Stellen für Kinder, klares Wasser zum Tauchen, schöne Wellen zum Surfen, einen Shuttleservice, eine Segelschule, Umkleiden, Strandbars, einen Bootsverleih …

Sie betrachten sich hunderte schöner Strandbilder und sind schon bereit, sich für irgendwas Hübsches zu entscheiden, als Sie auf diese Geschichte stossen:

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„Mit ein wenig Glück treffen Sie bei einem abendlichen Strandspaziergang einen der ältesten Bewohner dieser Küste, den kleinen Kompasskrebs. Seit Millionen von Jahren besuchen diese erstaunlichen Meereslebewesen unsere Strände – und wie viele menschliche Reisende sind auch sie auf der Suche nach ihrem Mittelpunkt.

Wenn ein kleiner Kompasskrebs aus dem Ei schlüpft, weiss er nicht, wo oben und unten ist. Doch er folgt einem uralten Instinkt, greift sich ein Sandkorn und legt es sich auf den Kopf. Dort ist eine kleine Mulde, in der sich stets ein wenig Wasser befindet – und darin bleibt das Sandkorn liegen und wächst zusammen mit ein paar Tropfen Meerwasser fest ein, wenn sich die Mulde im Lauf der nächsten Stunden schliesst.

Jetzt hat der kleine Krebs seinen eigenen Kompass, nach dem er auch benannt wurde: Die Lage des Sandkorns in seiner winzigen, wassergefüllten Höhle gibt ihm sein Leben lang genauen Aufschluss über seine Position in Raum und Zeit. Wenn er älter ist, wird er weite Reisen unternehmen, ohne sich in den Weltmeeren zu verirren – und mit untrüglicher Sicherheit findet er an seinen Heimatstrand zurück, um eine Partnerin zu finden oder selbst Eier in den Sand zu legen. Stirbt der kleine Kompasskrebs, gibt er sein Sandkorn wieder frei, und einer seiner Nachkommen kann es aufnehmen und aufs Neue als Kompass verwenden. Und weil die kleinen Kompasskrebse seit Jahrmillionen hier leben, ist wahrscheinlich schon jedes Sandkorn am Strand einmal der Wegbegleiter eines solchen Tieres gewesen.“

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Ob Sie diese Geschichte glauben oder nicht: Sie öffnet Ihnen einen unerwarteten, also überraschenden Blickwinkel – nicht nur auf diesen Strand, sondern auf alle. Den Blickwinkel des Kompasskrebses zu kennen, bringt Ihnen als Tourist keinen praktischen Nutz- oder Mehrwert und bietet auch keine Informationen über die Sauberkeit des Strandes, seine Eignung zum Schnorcheln oder seine Entfernung zum Hotel. Doch an diese Art der Strandwerbung werden Sie sich noch lange erinnern, egal ob Sie sich schliesslich für diesen oder einen anderen Ferienort entschliessen. Und die Geschichte werden Sie sicher auch weitererzählen – vielleicht mit dem Hinweis, Sie wüssten nicht, ob sie stimmt, aber sie wäre einfach schön.

Der unerwartete Blickwinkel konfrontiert nicht automatisch mit etwas Unbekanntem. Meist ist die Überraschung dann am grössten, wenn wir etwas, das wir zu kennen glauben, plötzlich von einer ganz neuen Seite sehen und bemerken, dass mehr dahintersteckt, als wir dachten. Dann fühlen wir förmlich, wie sich der Horizont und das Weltbild erweitern – und das ist einfach ein grossartiges Gefühl, das uns von der Kindheit an bis ins hohe Alter immer wieder adeln und erheben kann.

Exkurs in eigener Sache: Gibt es den kleinen Kompasskrebs wirklich?

Den kleinen Kompasskrebs gibt es nicht – zumindest nicht so, wie ich ihn für den unerwarteten Blickwinkel präsentiert habe. Tatsächlich gibt es einen Flusskrebs, der im Süsswasser lebt und Sandkörnchen auf diese Weise zu einem Kompass umfunktionieren kann. Dass er das seit Abermillionen Jahren an einem ganz bestimmten Meeresstrand macht und darum jedes dort liegende Sandkorn schon einmal als Orientierungshilfe mit einem der Krebse durch die Weltmeere gereist sein könnte, habe ich dazuerfunden – weil mir die Vorstellung so gut gefällt, weil es ohne weiteres auch genau so sein könnte und weil es in diesem Fall keinem schadet, die Story ein wenig anzufetten.

Als Berufsschreiberin liebe ich das Spiel mit dem Blickwinkel und finde jedes Thema, ob Schrauben, Kennzahlen oder Strandferien, interessant und der näheren Betrachtung wert. Beim Erstellen von Info‑, Ratgeber- und Werbetexten als Content für Internetseiten sind das Erfinden und Fabulieren im literarischen Sinne jedoch selten gefragt: Der Text darf nicht lügen oder ins Blaue schiessen, sondern muss sich an die Fakten halten. Die muss er aber so anrichten, präsentieren und servieren, dass sie sowohl dem Leser als auch dem Seitenbetreiber Gewinn bringen.

Show, don’t tell: Geschichten machen den Blickwinkel direkt erlebbar

Das Erzählen von Geschichten, auch unter dem modernen Anglizismus Storytelling bekannt, hat sich in manchen Bereichen des Content Marketing bestens bewährt. So setzen Erklärvideos, die unter anderem für die Mitarbeiterschulung immer beliebter werden, auf ein Prinzip, das auch jungen Literaten immer wieder ans Herz gelegt wird: Show, don’t tell – also zeigen, nicht erzählen. Es geht darum, den Leser, Zuschauer oder Zuhörer direkt ins Geschehen mitzunehmen, statt ihm irgendwelche Umstände oder Zusammenhänge zu erläutern.

Beim Lesen des Satzes „Plötzlich begann ein heftiges Gewitter“ wissen Sie, was gemeint ist. Zeigt der Autor Ihnen jedoch das vom Blitz grell erleuchtete, erschrockene Gesicht des Helden, der gleich darauf unter einem gewaltigen Donnerschlag zusammenzuckt und im strömenden Regen losrennt, während ein Windstoss ihm den Hut vom Kopf peitscht, dann fühlen Sie das auch. Und wenn Sie möchten, dass Ihre Mitarbeiter sich mehr für den betrieblichen Brandschutz engagieren, ist eine aktive oder interaktive Brandsimulation oder Löschübung mit Sicherheit effektiver als das nochmalige Vortragen der allgemeinen brandrechtlichen Bestimmungen.



Jeder persönliche Blickwinkel vergrössert das Panorama der Menschheit

Grundsätzlich ist kein Mensch an einen Blickwinkel gebunden. Nahezu jeder ist sogar seit frühester Jugend daran gewöhnt, von Zeit zu Zeit den Blickwinkel zu wechseln, denn das ist eine wichtige Voraussetzung für innere wie äussere Flexibilität und die persönliche Entwicklung. Durch unsere Fähigkeit und Bereitschaft, immer mal wieder die Perspektive zu wechseln, schaffen wir jede Menge persönliche Bezugspunkte zu einer grossen und aufregenden Welt. Und je mehr Blickwinkel zur Verfügung stehen, desto vielfältiger, reicher und runder werden Erleben, Erfahrung und Erinnerung.

Mag sein, dass alle möglichen Blickwinkel aller Menschen zusammen ein vollkommenes und wahrheitsgetreues 360-Grad-Panorama unserer Welt ergeben würden. Vielleicht könnte man den Menschen auch mit einem grossen Kompasskrebs vergleichen, der sich nicht nur ein Sandkorn, sondern gleich eine ganze Handvoll Sand in seine Orientierungsmulde legt, um sich dann sein Leben lang vom Wechselspiel seiner Kompasskörner inspirieren zu lassen. Auf jeden Fall sind zwei neu erfundene Metaphern bestimmt nicht verkehrt, um einen Text über verschiedene Blickwinkel kurz und würdig abzuschliessen.

Fazit: Mit dem Blickwinkel zu experimentieren oder verschiedene Blickwinkel für Marketingzwecke auszuloten, ist ein spannendes Spiel, das sich auf mehr als eine Weise lohnt – denn wer sich auf die Sichtweise eines anderen einlässt oder Gedanken über neue mögliche Blickwinkel macht, lernt nicht nur seine Zielgruppe bzw. Wunschkunden besser kennen, sondern auch sich selbst, sein Unternehmen und die Stärken oder Schwächen seines Angebots.

 

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